Evangelisches Dekanat Odenwald

Beerfelden: Erinnerung an Deportationen - Zehn Jahre Stolpersteine

Nie vergessen, Mensch zu sein

Beerfelden. "Ich habe Angst davor, dass wir vergessen, Mensch zu sein. Ich habe Angst vor Schwarz und Weiß - und dass dazwischen die Menschen verschwinden." Diese eindrücklichen sprachlichen Bilder zeichnete die jüdische Schriftstellerin und Journalistin Lena Gorelik beim Gedenken an die Deportation von 17 Beerfelder Juden im März 1942 - vor genau 80 Jahren. Eingebunden war Goreliks Ansprache in eine Gedenkveranstaltung an der Mümlingquelle, zu der neben Schülerinnen und Schülern auch viele weitere Gäste gekommen waren. Vor zehn Jahren waren auf gemeinsame Initiative der Oberzent-Schule und der evangelischen Kirchengemeinde Beerfelden die ersten Stolpersteine verlegt worden. Der heutige Schulleiter Bernd Siefert, der damals treibende Kraft hinter dem Projekt gewesen war, leistet mit seinen Schülerinnen und Schülern seither regelmäßig Erinnerungsarbeit - und erst recht zu einem Anlass wie nun diesem.
Siefert erinnerte auch daran, dass auf den Tag genau 77 Jahre zuvor Herbert Creutzburg auf dem Platz vor der Martinskirche wegen angeblicher Fahnenflucht hingerichtet worden war; auch für ihn gibt es seit 2016 einen Stolperstein.

"Damit Vergessen nicht passiert, darum sind wir heute hier", sagte Oberzents Bürgermeister Christian Kehrer. Die jetzt lebenden Menschen trügen keine Schuld am damals Geschehenen - am Mord an sechs Millionen Menschen, wie er mit Blick auf den Holocaust erinnerte -, wohl aber trügen sie, "wir alle, Verantwortung". Einen wichtigen Beitrag dazu leisten Initiativen wie die Stolpersteine, aber eben auch Gedenkveranstaltungen. "Wir gedenken Jahr für Jahr an die ermordeten Mitbürgerinnen und Mitbürger von damals", so Schulsprecherin Louisa Schmitt, "weil wir das Wissen von damals weitergeben wollen".
Bewegend, ja schmerzhaft deutlich wurde die Unmenschlichkeit in jenen Jahren am Beispiel des Mädchens Hilde Reinheimer, deren Geschichte Laura Münch vortrug. Hilde war mit einer Behinderung zur Welt gekommen, konnte nicht die schulischen Leistungen anderer Kinder erbringen. Dafür wurde sie vom Lehrer regelmäßig geschlagen. "Hilde weinte eigentlich immer", wussten ihre Mitschüler. "Die is dappisch", sagten viele im Ort. Aber an eben diesem Ort hingen die Reinheimers, Beerfelden war ihre Heimat. "Zu Hause fühlte Hilde sich geborgen, auch in den biblischen Geschichten, die sie liebte. Hier durfte sie sein", erinnerte Schülerin Laura.

Ergänzt wird das Wissen von damals neben den einzelnen persönlichen Schicksalen durch historische Fakten, von denen Helmut Ulrich aus dem Stadtarchiv einige zusammengestellt hatte: Auf dem Metzkeil, dem zentralen Platz in Beerfelden, waren die Menschen damals unter Schaulustigen auf Lastwagen regelrecht verladen und abtransportiert worden. Um einerseits alles akribisch zu dokumentieren, andererseits die Wirklichkeit zu vertuschen, notierten die Nationalsozialisten in ihren Listen neben den Namen der in den Tod Geschickten Vermerke wie 'ausgewandert' oder 'unbekannt verzogen' - Lügen-Chiffren, um Unmenschlichkeit sprachlich zu kaschieren.
"Die große Geschichte erfährt immer eine Konkretisierung vor Ort", verdeutlichte Dr. Dirk Strohmenger. Der promovierte Historiker und Lehrer, der zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Region geforscht und dazu auch ein Buch publiziert hat, würdigte "ein Jahrzehnt aktiven Gedenkens" in Beerfelden. Der Anlass dafür sei Aufgabe und Mahnung zugleich.

Erdogan Suna, der als Lehrer an der Oberzent-Schule auch Ethik unterrichtet, lud ein zu einer Gedankenreise mit dem bekannten Satz der Friedensbewegung: "Stellt Euch vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Wie anders würde die Welt, wie anders würden unsere Geschichtsbücher aussehen!" Und dabei komme es doch letztlich nur darauf an, dass jeder einzelne Mensch jeden anderen so stehenlassen könne, wie er oder sie ist.
Aus persönlicher Perspektive steuerte Christina Seipp Erinnerungen bei: Als junge Frau verbrachte sie längere Zeit in Israel. Vor ihrer Ausreise trug sie für ein Referat Erinnerungen zusammen, die es damals in Beerfelden nicht gegeben habe. "Heute gibt es die Stolpersteine", freute sie sich.

"Wahre Toleranz ist, Unterschiede als Bereicherung zu sehen. Und jedes einzelne Herz entscheidet", betonte Ingo Stechmann vom Staatlichen Schulamt Bergstraße-Odenwald. Er dankte Bernd Siefert, dem Kollegium der Oberzent-Schule sowie den Schülerinnen und Schülern für ihr "außergewöhnliches Engagement" in Sachen Erinnerung.
"Denn zur Zukunft gehört auch Erinnerung", so Pfarrer Roger Frohmuth und Rebekka Michel für die Evangelische Kirchengemeinde Beerfelden. "Und die Kirche hätte damals mutig ihre eigene Überzeugung bezeugen müssen, dass das Heil vom Juden Jesus Christus kommt." Stattdessen hätten die "Heil"-Rufe Adolf Hitler gegolten und die meisten, auch die Kirche, hätten eingestimmt oder bestenfalls geschwiegen.

Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von den Schülerinnen und Schülern Silas Daum, Jakob Lippert, Annika Schmitt und Esther Wilka. Sie spielten und sangen Friedens-Klassiker wie John Lennons 'Imagine' oder das Lied 'Wozu sind Kriege da?' von Udo Lindenberg und schlugen so auch musikalisch den Bogen von der Zeit vor 80 Jahren in ein leider auch gegenwärtig wieder aktuelles Weltgeschehen. Denn der Bezug zum Krieg in der Ukraine kam naturgemäß an vielen Punkten zum Ausdruck. Ob man wohl sagen könne, die Menschheit habe aus der Vergangenheit gelernt: Diese Frage schwang stets mit.

 

Bernhard Bergmann
26.3.2022


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